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Deutscher Bundestag - 6.Wahlperiode - Drucksache 6/3826 Anlage 1

GRUNDFRAGEN DES DATENSCHUTZES

Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums des Innern (Auszug)

  • Prof. Dr. W. Steinmüller
  • B. Lutterbeck
  • C. Mallmann
  • U. Harbort
  • G. Kolb
  • J. Schneider

Juli 1971


Vorwort

Im Winter 1970/71 erhielt der Unterzeichnende vom Bundesministerium des Innern den Auftrag, ein Gutachten über Grundfragen des Datenschutzes zu erstellen. Das Gutachten sollte Vorschläge und Anregungen für eine künftige Datenschutzgesetzgebung des Bundes erarbeiten. Die Verfasser schlossen sich nach der Auftragserteilung in einer "Arbeitsgemeinschaft Datenschutz" zusammen. Das der Arbeitsgemeinschaft gesteckte Ziel, innerhalb des Zeitraumes Januar 1971 - Juni 1971 die Grundlagen für ein Datenschutzgesetz des Bundes zu erarbeiten, erwies sich bei Fortschreiten ihrer Arbeit zunächst als immer problematischer. Die enge Verknüpfung von rechtlichen und technischen Details und die Tatsache, daß der Faktor Information im wesentlichen bisher nicht Gegenstand rechtlicher Erörterungen war, erforderte Anstrengungen, die mit dem geringen personellen Besatz der Arbeitsgemeinschaft auf Dauer nicht zu leisten waren.

Dieser personelle Engpaß konnte in der Spätphase unserer Untersuchungen durch die Mitarbeit der Assistenten des Lehrstuhles überbrückt werden: C. E. Eberle; H. J. Garstka; H. Tubies. Die Verfasser möchten sich auch an dieser Stelle ausdrücklich für ihre tatkräftige Unterstützung bedanken; ohne sie hätte das Gutachten in der jetzigen Form nicht entstehen können. Die Verfasser sind sich bewußt, daß wesentliche Probleme künftiger Klärung aufgegeben sind. Insoweit wartet noch ein weites Feld auf Wissenschaft und Rechtsprechung. Sie hoffen aber, daß sie dem Gesetzgeber die Hinweise haben geben können, die nach dem derzeitigen Stand der Forschung möglich waren.

Von einem eigentlichen Gesetzesvorschlag wurde abgesehen, da gewisse Alternativen noch der politischen Entscheidung bedürfen.

Das Literaturverzeichnis umfaßt zur leichteren Zugänglichkeit vor allem die deutschsprachige Literatur (im übrigen vgl. Schubert/Steinmüller: JUDAC. Jurisprudenz, Datenverarbeitung, Kybernetik [Internationale Bibliographie], München 1971).

Die Gliederung bietet zugleich eine erste Systematik des Datenschutzes.

W. Steinmüller

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(...)

2.2.3 Versuch der Entwicklung einer neuen Theorie

2.2.3.1 Methodische Schwierigkeiten

Es ist bereits geraume Zeit her, daß Evers diese Gedanken zum ersten Mal äußerte [31]. Seine Erkenntnis hat dennoch nicht zu einer neuen Theoriebildung zu Artikel 2 Abs.1 geführt. Dies hat vermutlich folgenden Grund: Es gelang ihm nicht, eine plausible Erklärung dafür zu finden, daß die Folgen einer Handlung Einfluß auf die Persönlichkeitsentwicklung des Handelnden haben. Genau an diesem Punkt liegt das Problem einer neuen Theorie: über die Beziehungen zwischen dem Handelnden, der Handlung und den Folgen der Handlung läßt sich mit juristischen Methoden nichts aussagen. Vielmehr handelt es sich um ein Problem, das von Psychologie und Soziologie erfaßt wird; demzufolge läßt sich nur mit Methoden, die in diesen Bereichen angewandt werden, etwas Schlüssiges über die genannten Beziehungen aussagen.

Von dieser methodischen Grundtatsache hat eine neue Theorie auszugehen.

2.2.3.2 Ansatz einer kybernetischen Erklärung

Es soll versucht werden, mit Hilfe eines einfachen kybernetischen Handlungsmodells die Zusammenhänge zu erklären, die zwischen den Folgen einer Handlung (etwa das Zurücklassen von Informationen über den Handelnden in der Umwelt) und der Entfaltung der Persönlichkeit des Handelnden bestehen. Dieses Modell hat auch bereits in die Kriminologie Eingang gefunden [32]. Es soll hier stark vereinfacht wiedergegeben werden [33].

Modell
(1) = Synthese<1| = Umwelteinfluß
(2) = Motiv und Selektion <2| = Reaktion der sozialen Umwelt
(3) = Aktion
(4) = resultative Bewertung
(5) = Internes Modell

Erläuterung des Modells

Nach diesem Modell vollzieht sich der Handlungsablauf folgendermaßen: In Stufe (1) vollzieht sich eine Synthese zwischen den Umwelteinflüssen, die auf den potentiell Handelnden einwirken <1| , und seinem internen Modell (5) . Darunter versteht man ein "Abbild der Außenwelt in der Struktur der Persönlichkeit" [34], also die Vorstellungen, die sich der Handelnde von seiner Umwelt macht. Aus der Synthese entsteht die Motivbildung, die die Selektion der Möglichkeit zur Motivbefriedigung einschließen soll (2). Die ausgewählte Möglichkeit wird zur Aktion (3), die in der Außenwelt wirksam wird. Diese Aktion wird von der Umwelt beurteilt, die Umwelt reagiert also <2|. Diese Reaktion nimmt der Handelnde wieder auf und bewertet sie für sich (4). Diese Bewertung fließt wieder in das interne Modell (5) zurück. Das hier bereits vorhandene Abbild der Umwelt wird durch diese, auf der Reaktion der Umwelt aufbauende Bewertung, ständig bestätigt oder verbessert ("Durch Erfahrung wird man klug!").

Für unsere Zwecke kommt es hauptsächlich auf die letzten Stadien des Handlungsablaufs an:

Bezeichnend ist zunächst, daß die Handlung mit der Aktion (3) nicht beendet ist; vielmehr zeigt schon allein die weitere Fortführung des Modells, daß noch weitere Auswirkungen für den Handelnden relevant sind. Da ist zunächst das Wirksamwerden der Handlung in der sozialen Umwelt; entscheidend ist aber, daß diese Umwelt reagiert und daß diese Reaktion auf den Handelnden zurückfließt. Damit ist genau das erklärt, was Evers gemeint hat:

Die Folgen einer Handlung wirken auf den Handelnden zurück, weil sie als die Reaktion der Umwelt das Bindeglied zwischen der Aktion und ihrer Beurteilung durch den Handelnden darstellen. Das Modell zeigt außerdem die Intensität der Rückwirkung. Der Handelnde bewertet nicht nur die Reaktion der Umwelt für sich, er läßt diese Bewertung in sein internes Modell einfließen; dies befähigt ihn zur Verbesserung seiner Vorstellungen über die Umwelt und gibt ihm damit die Möglichkeit, künftige Handlungen diesen neuen Erkenntnissen gemäß auszugestalten. Der Handelnde eignet sich eine optimale Strategie der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt an. Die Ergebnisse aus den resultativen Bewertungen werden gespeichert und bestimmen als Erfahrungen die Strategie der zukünftigen Handlungen" [35]. Diese Selbstoptimierung des Handelnden dient der Entfaltung seiner Persönlichkeit. Damit ist eine auf psychologischer Grundlage entwickelte kybernetische Erklärung für die gestellte Frage aufgezeigt.

Das Modell ist für unsere Zwecke jedoch nur brauchbar, wenn sich mit seiner Hilfe Aussagen über den Zusammenhang von Individualinformationen und Persönlichkeitsentfaltung machen lassen. Dies geschieht folgendermaßen: Durch die Aktion nimmt die Umwelt von dem Handelnden und der Handlung Kenntnis, sie nimmt Individualinformationen auf. Diese Kenntnis befähigt sie zu einer Reaktion, die der Handelnde wieder aufgreift. Es ist also für eine Person nicht gleichgültig, was über sie in der Umwelt gewußt wird, denn dieses Wissen, das aus Individualinformationen besteht, fließt in veränderter Form als Reaktion der Umwelt in diese Person zurück und beeinflußt so ihre Entfaltung [36].

2.2.3.3 Ansatz einer soziologischen Erklärung

Den Zusammenhang zwischen Aktion und Umwelt, der bereits Gegenstand des geschilderten kybernetischen Denkansatzes war, ist auch mit soziologischen Kategorien faßbar. Von den verschiedenen soziologischen Begriffen, die sich mit dieser Seite der Persönlichkeit beschäftigen [37], soll hier beispielhaft lediglich der der "sozialkulturellen Persönlichkeit" herausgegriffen werden. Er bezeichnet folgenden Tatbestand: Das Individuum wird zur Person und zur Persönlichkeit, wenn andere ihm soziale Identität zuschreiben und auf es reagieren [38]. Genauso wie die Gesellschaft in keiner Weise getrennt von den Individuen existieren kann, die sie aufbauen, kann auch das konkrete menschliche Individuum, wie wir es kennen, nicht allein in individuelle Vorstellungen aufgelöst werden; vielmehr gibt es eine "soziale Komponente seiner Persönlichkeit" [39]. Die Umweltkomponente wird also sehr stark betont. Sie ist die soziale Umwelt, d. h. die Gesellschaft und ihre Mitglieder. Nur durch ihre Reaktion auf den einzelnen bildet, d. h. entfaltet sich die Persönlichkeit des einzelnen: "Ein Grundproblem (der sozio-kulturellen Persönlichkeitsbildung) betrifft das Maß der Unterstützung, die die soziale Organisation der Gestaltungsstruktur gewahrt, in der sich die Persönlichkeit bildet und die Frage, ob sie nicht geradezu die relative Entwicklung der organisch determinierten Persönlichkeitsdimensionen bestimmen" [40]. In aller Vorsicht [41] kann also gefolgert werden: Die Persönlichkeitsbildung hängt von der Reaktion der Umwelt ab. Diese Reaktion setzt voraus, daß sie Individualinformationen über den einzelnen besitzt, die die Art der Reaktion beeinflussen.

2.2.3.4 Rechtliche Folgerung

Mit Hilfe kybernetischer und soziologischer Methoden läßt sich erklären, in welcher Weise die Folgen einer Handlung auf die Persönlichkeitsentfaltung des Handelnden zurückwirken. Darüber, wie diese Ergebnisse rechtlich umgemünzt werden, ist hier noch nichts ausgesagt. Dies ist Gegenstand der nun folgenden Untersuchung.

  • Da die Persönlichkeitsentfaltung von Artikel 2 Abs.1 gestützt wird und die Folgen einer Handlung auf die Persönlichkeitsentfaltung zurückwirken, wird der Handelnde auch hinsichtlich der Handlungsfolgen durch Artikel 2 Abs.1 geschützt.
  • Da der Staat gemäß Artikel 2 Abs.1 nichts tun darf, was die Persönlichkeitsentfaltung unzulässig einschränkt, darf er dies auch nicht auf dem Umweg über die Folgen einer Handlung betreiben.
  • Für den Handelnden bedeutet das: Er muß ein Bestimmungsrecht über die Folgen seiner Handlung in der Umwelt behalten. Zur Freiheit der Entfaltung der Persönlichkeit ist das Recht zu zählen, den Umfang, in dem die Umwelt von Denken und Handeln einer Person Kenntnis nehmen soll, selbst zu bestimmen [42].

Kenntnis nimmt die Umwelt aber durch die Individualinformationen, die ihr vom einzelnen mitgeteilt werden. Noch allgemeiner: Für Dritte stellt sich jede Person durch Mitteilung einer Klasse geordneter Informationen dar.

Diese Selbstdarstellung - das informationelle Personenmodell - fällt zusammen mit dem Schutzbereich des Artikels 2 Abs.1.

Nun ist die Wirklichkeit noch etwas komplizierter:
An sich bestimmt jedermann ausschließlich selbst darüber, ob und welche Informationen er zur Selbstdarstellung an die Umwelt abgibt.

Aber genauso gilt, daß jedermann stets mehr Informationen an die Umwelt gelangen läßt, als zu dieser Selbstdarstellung erforderlich wäre.

Er tut sogar eine Menge Dinge ausschließlich deswegen, damit die Umwelt Informationen über ihn erhält, die ein bestimmtes Personenmodell erzeugen sollen.

Das regelungsbedürftige Problem besteht nun darin, daß in dieses Selbstbestimmungsrecht aus Artikel 2 Abs.1 die moderne Informationsverarbeitung mittels Informationssystem massiv eingreifen kann und dadurch das "Informationsgleichgewicht" [43] empfindlich zuungunsten des Staatsbürgers - und ebenso der Gruppierungen - stärkt. Denn durch die Transparenz des Personenmodells (= der Individualinformationen im Informationssystem) wird der Verhaltensspielraum des einzelnen eingeschränkt.

Bemerkenswert ist, daß diese potentiellen Auswirkungen moderner Informationssysteme auf den einzelnen stattfinden können, ohne daß auch nur im geringsten die Verwaltung oder einer ihrer Beamten entfernt totalitäre Absichten hätte!

Das System als solches entfaltet diese Wirkungen (werden sie nicht durch geeignete Maßnahmen verhindert), die der Beobachter von außen nicht von den Auswirkungen totalitärer Systeme unterscheiden kann.

GG Artikel 2 Abs.1 garantiert demgegenüber das Selbstbestimmungsrecht des Bürgers über sein informationelles Personenmodell.

Dieses Ergebnis läßt sich auch durch eine dogmatische Überlegung stützen: durch eine Auslegung des Begriffs der Persönlichkeitsentfaltung mit Hilfe des Artikels 1 Abs.1.

Dafür muß vorausgeschickt werden, daß Artikel 1 hier nicht als Grundrecht, sondern als übergeordnetes Verfassungsprinzip verstanden wird, das "Maßstab für alle einzelnen Grundrechtsbestimmungen und deren Auslegung" sein muß [44]. Die Menschenwürde des einzelnen ist verletzt, wenn er zum Objekt staatlichen Handelns gemacht wird [45]. Der einzelne wird aber dann nicht zum Objekt, wenn ihm Räume für eigene Entscheidungen vorbehalten bleiben, wenn sein Selbstbestimmungsrecht nicht beseitigt wird. Er muß die Entscheidung darüber tragen können, ob und wie er sich entfalten will [46].

Es liegt nun folgende Frage nahe: Warum wird hier mühsam mit außerjuristischen Methoden ein Ergebnis gefunden, das sich ebenso gut auf dogmatischem Wege hätte finden lassen? Dazu ist zu sagen, daß die Verfasser der Auslegung von Artikel 2 Abs.1 durch Artikel 1 nur Unterstützungswert zugestehen; sie ist nach unserer Auffassung nicht in der Lage, eine neue Theorie zu Artikel 2 Abs.1 zu tragen.

Somit ergibt sich ein Formulierungsvorschlag für eine Theorie über den Begriff der Persönlichkeitsentfaltung: Freie Entfaltung der Persönlichkeit beinhaltet das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen darüber, ob er handeln soll und welche Folgen er seiner Handlung zumißt.

Das bedeutet für Artikel 2 Abs.1 als Prüfungsmaßstab:
Die Folgen der Handlung eines einzelnen sind das Zurücklassen von Individualinformationen in der Umwelt. Der einzelne hat also ein Selbstbestimmungsrecht, welche Individualinformationen er unter welchen Umständen an wen abgibt.

Die Verarbeitung von Individualinformationen durch die Verwaltung muß sich also daran messen lassen, ob und inwieweit sie das Selbstbestimmungsrecht und damit das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung verletzt. Artikel 2 Abs. 1 ist somit ein tauglicher Prüfungsmaßstab [47].

Das gleiche gilt für das Selbstbestimmungsrecht geschützter Gruppierungen [48].

Ergebnis:
Individual- und Gruppeninformationen sind vom Schutzbereich des Persönlichkeitsrechts aus Artikel 2 Abs.1 GG mit umfaßt.

(Alternative: Artikel 2 ist entsprechend vom Verfassungsgesetzgeber zu erweitern - die Verfasser neigen eher ersterer Lösung zu).

Fußnoten

  1. Sein Buch "Privatsphäre und Ämter für Verfassungsschutz" erschien bereits 1960.
  2. vgl. Steinmüller (2), 96; G. Herzog, 781 ff.
  3. Die Vereinfachung gegenüber der Darstellung bei Herzog erklärt sich aus dem hier verfolgten Zweck der Abbildung.
  4. Herzog, 783
  5. Herzog, a.a.O.
  6. Hierzu Luhmann (5), ebd.
  7. z.B. Enkulturation, Internalisierung, Sozialisation
  8. Turner, 1032
  9. Parsons, zit. nach König, 243
  10. Turner, a.a.0.
  11. Die Verfasser sind sich der Lückenhaftigkeit dieses Ansatzes bewußt.
  12. Evers, 40; Stein, 201
  13. Begriff von Simitis (2), 677 aus dem Verhältnis Exekutive - Legislative
  14. So Wernicke, Artikel 1 N. II 2 e; ebenso v. Mangold Klein, Artikel 1 N. III 1 c 2; Stein, 219, Evers, a.a.0.
  15. Maunz - Dürig - Herzog, Artikel 1 N. 24 f.
  16. Maunz - Dürig - Herzog, Artikel 2 N. 421 Stein, 201; Nipperdey (3), 77
  17. im Ergebnis ebenso Evers, a.a.O.
  18. Hamann - Lenz, Artikel 19 N.11

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